Braucht ein Unternehmen eine Vision?

Als ich vor 25 Jahren noch als Student mit meinem Vater über meine zugegebenermaßen damals sehr ehrgeizige, weitreichende Idee für die langfristige Zukunft unseres Unternehmens sprach, erhielt ich nur den trockenen Kommentar: „Na ja, das kannst du dir ja mal über das Bett hängen.“

Damals war ich darüber frustriert und sogar ein wenig erbost – schließlich lernt man doch in der klassischen Lehre der strategischen Unternehmensführung, wie wichtig die Zukunftsvision eines Unternehmens für die strategische Planung ist. Mein Vater als Praktiker hatte sich dagegen nie intensive Gedanken darüber gemacht, wie konkret das Unternehmen in fünf oder zehn Jahren aussehen sollte.

Heute, nach mehr als zwanzig Jahren Praxis in der Unternehmensführung mit detaillierter Unternehmensvision, ausformulierter Strategie und sehr erfolgreicher, umgesetzter Systematik für die Definition und Umsetzung von Jahreszielen, bin ich geneigt, mehr meinem Vater als der klassischen Strategielehre zuzustimmen … Braucht ein Unternehmen überhaupt eine Vision?

Keine Frage – eine konkrete Vorstellung davon, wohin sich das Unternehmen entwickeln sollte, hilft enorm dabei, Chancen zu erkennen und Entscheidungen zu treffen. Eine starke Vision im Sinn von Elon Musks Unternehmen Tesla: „Wir wollen, dass die Automobilwelt elektrisch wird!“ kann viele Mitarbeiter antreiben, Talente anziehen und sogar die Öffentlichkeit bewegen.

Doch mal Hand auf Herz – welcher Mittelständler hat schon so großartige Visionen und für wie viele Unternehmen ist der Anspruch realistisch, die Welt maßgeblich zu verbessern oder verändern zu wollen?

Eine weitere zentrale Herausforderung ist unsere immer dynamischere Umwelt. Niemand ist in der Lage, die Situation in fünf Jahren vorherzusagen – selbst in drei Monaten kann sich die Lage bereits weltweit grundlegend verändert haben. Eine starres Bild der Unternehmenszukunft passt nicht zu unserer heutigen Welt voller Veränderungen. Als Peter Drucker in den 50er-Jahren die klassische Lehre vom „Management by Objectives“ entworfen hat, ging es noch darum, mit maximaler Effizienz ungesättigte Verteilungsmärkte zu versorgen.

„Survival of the Fittest“ – der Anpassungsfähigste überlebt. Das gilt in der heutigen Wirtschaftswelt mehr denn je. Selbst auf kleinsten Nischenmärkten herrscht heute dank drastisch gesunkener Transaktionskosten ein globaler Wettbewerb mit immer höheren Anforderungen an die Geschwindigkeit des Anpassungsvermögens einer Organisation an veränderte Rahmenbedingungen. Ein typisches Beispiel für die heutige Welt der Wertschöpfung ist Software „made in USA“, die in Sekundenschnelle per Download aus dem App Store überall auf der Welt verfügbar ist, mit einem Service aus dem indischen Callcenter und einer Rechnungsstellung aus Irland.

Also – sollen wir unsere Visionen und Zukunftspläne am besten über Bord werfen, auf Strategien und Ziele verzichten und unsere Entwicklung einfach dem Schicksal überlassen? Offen gesagt – viele mittelständische Unternehmen überleben und entwickeln sich auf diese Art aus meiner Sicht hervorragend.

Doch auch wenn eine Unternehmensvision anscheinend nicht notwendig für den Unternehmenserfolg ist, kann sie doch aus unserer Erfahrung heraus in einer hoch dynamischen Umwelt sehr hilfreich sein.

Strategien und Ziele sind ein guter Weg, um systematisch, effektiv und effizient die eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln und das Leistungsvermögen zu verbessern, um die Wettbewerbsfähigkeit steigern. Schnelligkeit, Kosteneffizienz, Innovationskompetenz oder die Förderung der Mitarbeiter würde ich hierzu zählen.

Beispiel: Einer der fünf Punkte unserer vor Jahren definierten Unternehmensvision lautet: „Wir sind ein internationaler Firmenverbund“. Dieses gewiss etwas banale, aber erfolgreiche Bild gibt uns eine Richtung für die notwendige Weiterentwicklung unserer Auslandsmärkte, unserer internen Abläufe und der notwendigen Qualifikation unserer Mitarbeiter. Es macht Entscheidungen für Kooperationen oder sogar Akquisitionen im Ausland leichter, wenn sich die Chancen hierfür ergeben. Auf diese Weise hilft uns dieser Aspekt unserer Unternehmensvision immer wieder, uns erfolgreich international zu behaupten.

Die Welt verändert sich immer schneller. Es ist heute nicht mehr möglich, Jahre in die Zukunft zu planen, wenn sich das Umfeld schon in wenigen Monaten gravierend ändern kann. Dort, wo wir neue Wege gehen und es noch nicht klar ist, wie wir das Ziel erreichen, suchen wir uns heute Schritt für Schritt mit der KATA-Systematik die nächste Herausforderung auf unserem Weg, probieren aus, hoffen zu lernen und uns kontinuierlich zu verbessern.

Damit sind wir eigentlich wieder da, wo mein Vater als Unternehmer angefangen hat. Man braucht nicht unbedingt eine Vision, um als Unternehmen erfolgreich zu sein – auch wenn sie eine Hilfe ist. Man braucht aber den unbedingten Willen zur Verbesserung und Anpassung an sich schnell verändernde Umstände und den kontinuierlichen Fortschritt. Das ist nicht immer besonders großartig – aber erfolgreich.