Ein Jungingenieur bittet kurzfristig um ein persönliches Gespräch. Er ist ein sehr sympathischer Mann, der sich in unserem Unternehmen seit einigen Jahren erfreulich entwickelte, mehr Verantwortung bekam und nach allgemeiner Ansicht eine aussichtsreiche, langfristige Karriere bei uns vor sich hatte.
Nach ein paar einleitenden Worten legt er einen Umschlag auf den Tisch und spricht seine Kündigung aus. Zack! Das war’s bei uns – ohne Vorankündigung, ohne kritische Worte im Vorfeld und ohne Spannungen oder Anzeichen hierfür in den letzten Monaten davor.
Als Unternehmer ist dies erst einmal sehr schwer zu verdauen. Zumal er nicht der erste gute Mitarbeiter in diesem Jahr ist, der unser Unternehmen aus eigenem Antrieb verlässt.
Über die Kündigung von Mitarbeitern spricht man nicht gern. Sofern das Unternehmen sie selbst initiiert, möchte man dem Mitarbeiter keine Steine in den Weg legen und sein Ansehen erhalten. Kündigt der Mitarbeiter aus eigenem Antrieb, ist das Arbeitgeberimage angeschlagen, der Stolz des Unternehmens verletzt und man fürchtet um Nachahmer aus den eigenen Reihen. So war es bisher.
Doch die Zeiten ändern sich auch hier. Im Jahr 2018 ist der Arbeitsmarkt für Produktionsunternehmen in Deutschland massiv überhitzt – und er wird es noch eine Zeitlang bleiben, bis der unausweichliche Hammer in der Automobilindustrie fällt (die Zeichen hierfür sind klar erkennbar, doch das ist ein anderes Thema). Die Angst vor Produktionsverlusten führte zu extrem hohen Abschlüssen zwischen den Tarifparteien sowie zu einer Aufwärtsspirale bei Löhnen und Gehältern auf breiter Front. So kurzfristig, wie in der Krise Mitarbeiter „abgebaut“ wurden, so schnell wollen viele Unternehmen jetzt neue Mitarbeiter finden, koste es, was es wolle …
Wo in der Krise im Jahr 2008 die Loyalität der Unternehmen eingefordert wurde, ist es jetzt um die Loyalität der Mitarbeiter nicht immer gut bestellt. Der oben beschriebene Jungingenieur gab als Begründung nur lapidar an: „Ja, es ist wirklich ganz gut hier, aber ich habe jetzt eben etwas noch Besseres gefunden.“
Der Satz schmerzt. Sollen Arbeitgeber dann auch ständig nach besseren Mitarbeitern suchen, auch wenn die vorhandenen Mitarbeiter schon „ganz gut“ sind? Oder gilt Loyalität nur in eine Richtung – vom Unternehmen zum Mitarbeiter?
Was ist aus unserem Anspruch geworden, ein werteorientiertes Familienunternehmen zu sein, in dem Mitarbeiter manchmal sogar über mehrere Generationen bei uns tätig sind? Unsere nachhaltige Unternehmenspolitik hat dazu geführt, dass wir in der letzten Krise keinem einzigen Mitarbeiter betriebsbedingt kündigen mussten. Ist dies schon zu lange her – besonders für die jüngeren Kollegen? Sind in den aktuellen Zeiten konjunktureller Hochphasen Werte wie Nachhaltigkeit, Verlässlichkeit und gegenseitiges Vertrauen nicht mehr so relevant?
Nein, das stimmt nicht. Unsere Werte sind und bleiben äußerst relevant!
Zeit für etwas mehr Selbstreflektion.
Tatsache ist, dass wir in diesem Jahr als Arbeitgeber einem wesentlich breiteren und härteren Wettbewerb um Mitarbeiter als sonst ausgesetzt sind. Das hat aber auch seine guten Seiten!
Die Mitarbeiter haben heute wesentlich weniger Angst um ihren Arbeitsplatz. Angst ist immer eine schlechte Motivation. Für Mitarbeiter ist es heute einfacher, offener im Unternehmen zu sein, selbstbewusster aufzutreten und ihren Weg frei zu bestimmen.
Wenn ein Mitarbeiter mit seinem Arbeitsplatz oder seiner Arbeit massiv unzufrieden ist, sollte er nicht aus Angst heraus in Untätigkeit verharren müssen. „Love it, change it or leave it!“ Wir hoffen, dass jeder Mitarbeiter zunächst versucht, an den Bedingungen seiner Arbeit bei uns das zu ändern, was für ihn unbefriedigend ist.
Kommt man mit dem Chef nicht klar? Dann ist es an der Zeit für ein Feedbackgespräch. Verdienst du zu wenig? Dann zeige mehr Einsatz, bringe eine bessere Leistung und verbessere deine Qualifikation, damit du für mehr Leistung auch berechtigterweise mehr Geld erwarten kannst. Passen die Abläufe nicht, gibt es zu viele Fehler im Prozess, klappt die Kommunikation nicht? Dann arbeite mit daran, dies gemeinsam Schritt für Schritt zu verbessern.
Erst wenn die Vorstellungen vom eigenen Beruf zu sehr von den Möglichkeiten in unserem Unternehmen abweichen, ist es sicher für beide Seiten sinnvoller, getrennte Wege zu gehen.
Das führt dazu, dass ein langjährig erfolgreicher Leiter der Finanzbuchhaltung noch einmal ganz neue berufliche Wege in der IT-Industrie einschlagen kann – weil es ihn schon immer fasziniert hat. Eine andere, hoch engagierte Führungskraft kann eine neue Stelle als Sachbearbeiter finden, in der sie zeitlich und beruflich viel weniger gefordert ist, um sich voll auf ihre Familie zu konzentrieren. Oder ein junger Ingenieur findet heraus, dass er unbedingt noch in seinem Berufsleben erfahren muss, ob das „Gras auf der anderen Seite des Hügels wirklich grüner ist“.
Die überwältigende Zahl der Leistungsträger sind erfreulicherweise weiterhin zufrieden, vielleicht sogar teilweise glücklich im Job. Mitarbeiter, die größtenteils zufrieden sind und ihre beruflichen Vorstellungen zumeist verwirklichen können, bleiben bei uns. Für sie eröffnen sich auch immer weitere Chancen. Andere Mitarbeiter gehen. Das ist nicht immer angenehm und gerade bei der aktuell guten Auftragslage fehlt jede Hand und jeder Kopf. Doch es ist für ein Unternehmen langfristig gut und bereinigend, wenn jeder frei gehen kann, der möchte. Das ist das Gute an der aktuellen Hochkonjunktur.
Letztendlich ist dies aber eine gute Entwicklung für die betroffenen Personen und für unser Unternehmen. Wir danken jedem, der sich bei uns eingesetzt und gute Leistungen erbracht hat. Wir wünschen jedem das Beste für seinen persönlichen, individuellen Weg. Wir arbeiten auf der anderen Seite weiterhin daran, in unserem werteorientierten Familienunternehmen der Mehrheit der Mitarbeiter eine sinnvolle Arbeit zu bieten, die ihren persönlichen Vorstellungen, Fähigkeiten und Entwicklungen entspricht und bei der wir gemeinsam langfristig erfolgreich sein werden. So ist der ein oder andere Mitarbeiter, der uns verlassen hat, auch schon wieder zu uns zurückgekommen …
Foto: Martin Barraud/Getty Images