Bei einem Workshop im Führungskreis erwischte mich die provokativ an mich gerichtete Frage der sehr sozial eingestellten Trainerin völlig unvorbereitet: „Herr Kuhn, wie sehen Sie die Tatsache, dass Sie anscheinend mit der Bearbeitung Ihrer E-Mails auch am späten Abend und den Wochenenden Ihre Mitarbeiter unter Druck setzen? Ist Ihnen dies bewusst? Finden Sie, dass Sie sich hier vorbildlich verhalten?“
Starker Tobak. Da ist man froh, selbstständig zu sein, kommen und gehen, arbeiten und ausspannen zu dürfen, wann man möchte, und nun so etwas. Mit Engagement und Freude reagiert man umgehend auf die Frage eines Kunden, welcher häufig auch ein engagierter Unternehmer ist. Die Uhrzeit oder der Wochentag sind dabei unwichtig. Durch kompetente und schnelle Reaktion hat man ihn voll überzeugt, während die Konkurrenz noch weiterträumt. Zeiten verlieren im internationalen Geschäft natürlicherweise an Bedeutung wenn man in Asien, Amerika oder dem Nahen Osten Geschäfte machen möchte, und auch in Deutschland gibt es Geschäftspartner mit viel Power und Engagement, mit denen man sich so die Bälle zuspielt.
Vieles läuft heute im internen wie externen Geschäft so viel effizienter und reibungsloser dank eines funktionierenden Mail-Verkehrs. Ein Unternehmen ohne E-Mail ist heute nicht mehr vorstellbar – wenn auch die oben genannte, gutmeinende Trainerin der Ansicht ist „vor 15 Jahren haben wir auch alle noch ohne E-Mails gearbeitet und sind zurechtgekommen“. Die Welt hat sich weiterbewegt und jeder technische Fortschritt bringt Verbesserungen mit sich, die sich niemand leisten kann zu ignorieren.
Wie immer muss sich der Mensch an den technischen Fortschritt gewöhnen – das war schon beim Telefon so, dem Radio, Fernseher, Internet, Handy, E-Mail, Messenger-Diensten… Unsere Eltern haben uns als Kinder oft ermahnt, den Fernsehkonsum zu begrenzen – zu viel Fernsehen sei bekanntermaßen schlecht für die Menschen und die ganze Gesellschaft würde eines Tages hieran zugrunde gehen. Heute ermahnen wir unsere Kinder, nicht zu viel vor dem Computer, dem Handy oder dem Internet zu hocken, zu viel davon sei bekanntlich schlecht für die Menschen, und die ganze Gesellschaft wird eines Tages hieran zugrunde gehen…
Als Arbeitgebern versuchen „sozial“ eingestellt Mitmenschen uns vorzuschreiben und zu ermahnen, dass unsere Mitarbeiter nicht zu viel Zeit mit den E-Mails verbringen dürfen, zu viel davon sei bekanntermaßen schlecht für uns… VW wird dabei oft als Vorbild gepriesen mit der Vorgabe von Zeiten, in denen Mitarbeiter überhaupt Mails bearbeiten dürfen (die bei VW übrigens nicht für außertarifliche Mitarbeiter gelten). Die Mitarbeiter „müssen“ durch Paragrafen und Regeln davor „geschützt“ werden, nicht selbst zu oft ihre Mails zu lesen. Die Unternehmensleitung oder besser noch der Staat habe vorzugeben, wann wer wie viele Mails lesen und bearbeiten darf, da die Mitarbeiter offensichtlich unmündig und nicht selbst in der Lage sind, dies für sich selbst zu bestimmen.
Um Missverständnissen vorzubeugen – es geht hier nicht darum, die Mitarbeiter anzuhalten, am Feierabend oder am Wochenende noch mehr daheim zu arbeiten und Mails dann umgehend zu beantworten. In der Freizeit soll die eigene Person und die Familie die oberste Priorität genießen, das steht außer Frage. Sofern keine Rufbereitschaft besteht oder der Kunde nicht noch dringend auf Antwort wartet, darf und soll jeder Arbeit und Handy beiseite legen und sich mit vollem Herzen auf andere Seiten des Lebens konzentrieren. Hier soll, darf und muss kein Mitarbeiter unseres Unternehmens ein schlechtes Gewissen haben, wenn er Mails nicht beantwortet oder auch nicht erreichbar ist – wir fördern dies sogar.
Wenn es aber Mitarbeiter (und Chefs) gibt, die schon die innere Einstellung erreicht haben, arbeiten „zu dürfen“ (und nicht arbeiten „zu müssen“), die auch einmal in ihrer Freizeit mit Freude einen Gedanken formulieren, eine Aufgabe erledigen oder eine Frage loswerden möchten, so sollen diese es auch bitte mit ganzem Herzen tun! Wer lieber täglich auch im Urlaub seine Mails prüft, um dadurch mehr Ruhe zu finden, kann dies genauso gerne machen wie derjenige, der im Urlaub in jedem Fall vollen Abstand braucht und die Mails zu 100% seinem Stellvertreter im Unternehmen überlässt.
Jeder Mensch ist nun einmal anders und wir werden niemandem vorschreiben, wie er arbeiten oder leben soll. Alles andere wäre für mich „un-menschlich“.
Tom Astor sagt:
Ich stimme Ihnen grundsätzlich zu, daß man geschäftliche Mails in unserer heutigen, schnellen und internationalen Welt auch in der Freizeit schreiben kann. Aus Sicht des Schreibenden schwingt mit jeder Mail auch mit, daß man – auch in der Freizei – präsent ist und fürs Geschäft offen ist. Die Frage ist aber nicht nur, was man als Sender senden will, sondern auch, was der Empfänger verstehen kann! Das klassische Kommunikationsbeispiel „Der Mülleimer ist voll“ kann vom Sendenden nur eine reine Feststellung gemeint sein, kommt aber beim Empfangenden u.U. als Befehl an. Übertragen auf ein Unternehmen: „Ich als Chef schreibe Dir am Wochenende weil mir gerade die Gedanken durch den Kopf gehen und weil ich es gern und sofort erledigen will – ich als Mitarbeiter und reiner Gehaltsempfänger schalte Freitag Nachmittag ab und Montag Morgen an und wenn mein Chef mir am Wochenende eine Mail schreibt, setzt mich das unter Druck, weil ich ihm ja einerseits zeigen will, dass ich für ihn da bin, andererseits aber frei habe! Diese Wirkung beim Empfänger darf nicht unterschätzt werden, weil sie schleichend kommt und unterbewusst Stress aufbaut.
Klare Regelungen – wie bei VW – helfen nur bedingt, weil es in bestimmten Situationen eher kontraproduktiv wirkt. Einer ist immer dabei, der sich hervorheben will und auch am Wochenende geschäftliche Mails beantwortet (und das am Besten noch mit CC an die Anderen)! Der Ausweg kann hier nur offene Kommunikation auf einer Vertrauensbasis oder eine generelle Linie für alle – auch für den Chef – sein: Keiner schreibt geschäftliche Mails in der Freizeit oder jeder schreibt, wann er will und das Klima in der Firma ist so gut, dass niemand auf den Gedanken kommt, dass es ihm negativ ausgelegt wird! Ich bin ein Freund der zweiten Variante und setze die bei mir auch um! Das funktioniert aber nur in kleineren Unternehmen mit schlanken Strukturen, wo sich alle kennen. Gutes Betriebsklima gibts nicht per Verordnung! Je mehr hierarchische Ebenen, desto mehr Missverständnisse! Das ist auch der Grund, warum Kommunikationstrainer so gut beschäftgt sind – wir haben verlernt, zu kommunizieren!
Tom
4. August 2014 — 05:46
Andre Kuhn sagt:
Vielen Dank für Ihren Kommentar! Mit Sicherheit ist der Umgang mit Mails und entsprechenden Erwartungen ganz wesentlich von der Firmenkultur bedingt und ich kann nur hoffen, dass auch bei uns das Vertrauen in die von Ihnen beschriebene zweite Variante wächst.
4. August 2014 — 07:52